Digitalisierung nervt!
Wenn euch diese klare Position überrascht, hat mein Clickbaiting offenbar funktioniert. Aber ich meine es wirklich so. Eine Erklärung.
Natürlich meine ich damit nicht, dass Unternehmen, Vereine oder Verwaltungen weniger digital denken sollten. Im Gegenteil. Und selbstverständlich sehe auch ich, dass Deutschland auf allen Ebenen in einem Dornröschenschlaf steckt und nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs einfach satt scheint. „Uns geht es doch gut“ – das typische Innovators Dilemma. Denn diese Saturiertheit werden wir schon in Kürze bereuen. Ob das Qualitätssiegel „Made in Germany“ in einigen Jahren noch Bestand hat, ob der deutsche Wohlstand auch auf Sicht zu halten ist, ob wir uns weiterhin als Exportweltmeister bezeichnen können – ich bezweifle es ehrlicherweise. Und hier kommt die sogenannte Digitalisierung ins Spiel. Wie mich diese Vokabel nervt. Kennt ihr eigentlich ein englisches Äquivalent zu dieser deutschen Wortschöpfung? Okay, es gibt so etwas wie „to digitize“, damit ist aber in der Regel gemeint, dass ein Brief eingescannt wird oder ein Kalendereintrag aus einem analogen Kalender in eine digitale Form übertragen wird. Und da liegt sprichwörtlich der Hund begraben. Denn unsere Gesellschaft denkt offenbar größtenteils, dass es ausreicht, einige Prozesse zu „digitalisieren“. Microsoft 365 installiert, SAP am Start, fertig. Alles digital, oder?
Und deswegen nervt mich der Term Digitalisierung. Wir erfahren gerade einen Strukturwandel, eine digitale Revolution, aber das dürfte doch für niemanden neu sein. Die Otto Group hat schon 1995/1996 einen Onlineshop eingeführt und somit das bestehende Kataloggeschäft „digitalisiert“. Also: ein alter Hut. Diese digitale Revolution ist viel mehr, sie führt zu einer komplett neuen Welt. Einer Welt, in der vergleichsweise einfache und unkreative Tätigkeiten (LKW-Fahrer:innen, Busfahrer:innen, Taxifahrer:innen, Service-Mitarbeiter:innen, Logistiker:innen, Bankmitarbeiter:innen, Kassierer:innen und viele mehr) weniger relevant werden. Eine Welt, in der nicht nur blind konsumiert wird, sondern wo Konsum immer mit moralischen Werten abgeglichen wird. Wo Arbeit und Freizeit verschwimmen. Wo lebenslanges Lernen erforderlich ist. Wo Meinungen von gestern hinterfragt werden müssen und man sich und seine Meinung ständig erneuern muss (was oftmals mit dem Buzzword Agilität gemeint ist). Eine Welt, die sich jeden Tag stark verändert. Und ja, natürlich auch eine vernetzte (digitalisierte) Welt, in der der Aufzug selbst meldet, dass ein Verschleißteil demnächst erneuert werden muss, in der Stadtbahnen ohne Fahrer:innen auskommen oder in der die Post von Drohnen oder vergleichbarer Technik übernommen wird.
Meine Nettobotschaft: Das typisch deutsche Buzzword Digitalisierung greift viel zu kurz. Wenn wir uns als Gesellschaft weiter auf die sogenannte Digitalisierung fokussieren statt das große Ganze zu sehen, werden wir den Anschluss weiter verpassen. Wir müssen akzeptieren, dass die Zeit der linearen Veränderung vorbei ist. Das iPhone und somit das erste massentaugliche Smartphone ist erst 14 Jahre alt und hat unser Leben grundlegend verändert. Derartig „große Veränderungen“ werden uns in zunehmend kleineren Zeitintervallen treffen. Know what: Ich bin total neugierig und freue mich riesig auf das, was die (digitale) Zukunft für uns bereithält. Lasst uns über eine neue Welt sprechen, aber bitte kommt mir nicht mit dIGItaLiSieRuNG. Denn das, was mit Digitalisierung gemeint ist, greift 1. zu kurz, ist 2. längst in unserer Lebensrealität angekommen und hindert uns 3. daran, das Big Picture zu sehen. Kurzum: Digitalisierung nervt.
vom
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